Woche 1 im Höhentrainingslager

Montag:
Velo statt Privatjet

Die Coronakrise hat nicht nur Schlechtes gebracht, trotz einer komplett abgesagten Orientierungslauf-Saison und natürlich vielen weiteren Einschränkungen. Doch es gibt auch Positives: Ich konnte in den vergangenen Wochen viele sportliche Projekte realisieren, die während einer normalen Saison nicht möglich gewesen wären. Ende letzter Woche, stellte ich mich einer etwas anderen Challenge. Die Anreise ins Höhentrainingslager in St. Moritz bestritt ich nicht mit dem Privatjet, dem Zug oder mit dem Auto, sondern für einmal mit dem Velo. In drei Tagen fuhr ich mit meinem Bruder und einem Nationalkader-Kollegen von Bern via Obergesteln und Obersaxen ins Engadin. Dabei radelten wir pro Tag zwischen 110 und 160 Kilometer und absolvierten dabei jeweils rund 3000 Höhenmeter.
Angekommen im Engadin absolviere ich am Montag bereits eine längere Trailtour in den Bergen, trotz schweren Beinen vom Velofahren. Von Casaccia will ich via Septimerpass auf den Piz Lunghin und von dort nach St. Moritz rennen. Aufgrund des vielen Schnees und der teils steilen Hänge mache ich vor dem Gipfel kehrt, da ich nicht zu viel riskieren will. Ich rutsche auf meinem Allerwertesten den Hügel hinunter und erkenne von unten her zum meinem Erstaunen zwei Wanderer, die oben auf dem Berg stehen. In diesem Moment meldet sich das Spitzensportler-Gen in mir und ich starte einen zweiten Gipfelversuch über eine neue Route. Dieser Vorstoss klappt, und ich geniesse auf rund 2800 Meter über Meer eine wunderbare Rundumsicht vom Piz Lunghin.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Wenn drei Kurven unterhalb der Passhöhe nichts mehr geht, kann ein Branchli Wunder wirken.
  • Selten schätzt man ein kühles Getränk so sehr, wie wenn man nach einer harten siebenstündigen Rennvelotour am Ziel eintrifft und die Kirchenuhr gerade acht Uhr am Abend geschlagen hat.

Dienstag:
Damals vor 17 Jahren

Als ich am Morgen aufstehe, merke ich schnell, dass vier Stunden rennen um einiges härter sind als vier Stunden auf dem Rennrad zu hocken. Meine Beine fühlen sich so an, als wäre während der Nacht ein Traktor drübergefahren. Trotzdem absolviere ich zuerst eine Runde auf dem Vitaparcours inklusive Rumpftraining, am Nachmittag verabrede ich mich mit Kollegen für eine Runde im Stazerwald. Während dem einstündigen Dauerlauf schwelge ich in Erinnerungen, meinen ersten Sieg im Orientierungslauf auf nationaler Stufe holte ich genau hier – vor 17 Jahren.
Am Abend entspanne ich mich in der Wohnung, die ich mit meiner Freundin und einem befreundeten Paar für einen Monat gemietet habe. Dabei geniessen wir einen Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern nach dem Rezept von Andreas Caminada. Die Zubereitung dauert nur fünf Minuten, doch die Freude über das kulinarische Meisterwerk währt einen ganzen Abend. Neue Rezepte ausprobieren gehört wohl genau so zur Corona-Epidemie wie die GPS-Uhr zum Läufer.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Plane kein hartes Training am Morgen nach einer langen Trailtour am Vortag.
  • Der Stazerwald ist und bleibt einer meiner Lieblingswälder.

 

Mittwoch:
Intervalltraining Richtung Gipfel

Ich plane meine Einheiten in dieser Phase des Trainings noch stark nach dem Lust-und-Laune-Prinzip. Die meisten Trainings werden spontan entschieden und dem Wetter angepasst. Als ich beim Morgenessen auf dem Balkon den Piz Mezdi in voller Pracht vor mir sehe, da fasse ich den Entschluss, diesen Berg besteigen zu wollen. Ich renne so schnell es geht in Serien à 4 Minuten mit 1.5 Minuten Pause den Wanderweg hoch. Nach sieben Serien und 1000 Höhenmeter oberhalb des Tals zwingt mich jedoch der viele Schnee zur Umkehr. Die Einfachheit beim Rennen gefällt mir sehr, im Vergleich zu anderen Sportarten ist man nicht auf viel Material angewiesen: Ein paar Schuhe, T-Shirt und Shorts und sonst nichts. Meine einzigen Begleiter auf dieser Tour sind Murmeltiere, Birkhühner und Gämse.
Die Anstrengung des Intervalltrainings hinterlässt seine Spuren, ein Mittagsnickerchen ist unumgänglich. Gut erholt schwinge ich mich einige Stunden später aufs Velo. Zwischenzeitlich bringt mich die Bikerunde ans Limit. Physisch (1000 Höhenmeter), fahrtechnisch (schwierige Single-Trails) und wetterbedingt (starker Wind und Kälte) fordert mich die Tour mehr als mir lieb ist. Das Dessert dieser Ausfahrt geniesse ich dann aber umso mehr: Der gut fahrbare Weg hinunter nach St. Moritz ist ein einziges Highlight!

Gewonnene Erkenntnisse:

  • 9h Schlaf und zusätzlich ein 30-minütiger Mittagsschlaf sind für die Erholung Gold wert.
  • An mir ist kein Nino Schurter verloren gegangen.

 

Donnerstag:
Doppelt so viel Training als sonst

Obwohl in diesem Sommer keine Wettkämpfe stattfinden, heisst das für mich nicht, dass ich nicht viel trainiere. Im Gegenteil. Alleine in den vergangenen sieben Tagen sammelte ich 30 Trainingsstunden. Das sind doppelt so viele, wie während einer normalen Trainingswoche. Erholung ist dabei enorm wichtig, neun Stunden in der Nacht durchschlafen ist Gold wert. Heute stehen zwei klassische Trainingseinheiten auf dem Programm: Am Morgen ein 80-minütiger Dauerlauf, am Nachmittag ein Krafttraining.

Doch ich bin nicht nur in St. Moritz, um an meiner Form zu feilen. Natürlich geniesse ich auch die Zeit mit meiner Partnerin und meinen Freunden. Am Abend spielen wir das Kartenspiel «The Mind». Dabei geht es um die Team-Erfahrung, man gewinnt oder verliert als Gruppe. Nach Startschwierigkeiten und einem erfolglosen ersten Versuch funktioniert unser Team immer besser. Die folgenden zwei Runden absolvieren wir erfolgreich, und dabei kommt auch die berühmte Lagerstimmung auf. Das ist ein schöner Kontrast zu den zuvor vielen einsamen Abenden zu Hause.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Habe ich die Möglichkeit «planlos» in toller Umgebung zu trainieren, kann mich nur wenig bremsen.
  • Krafträume riechen noch genau gleich, obwohl sie drei Monate geschlossen waren.

Freitag:
Wettrennen am Berninapass

Das Engadin ist wie ein riesiger Spielplatz, der einem als Sportler unendliche Möglichkeiten bietet, sich auszutoben. Ich kann mich dabei nur schwer zurückhalten. Das OL-Nationalteam trainiert momentan praktisch geschlossen in der Region um St. Moritz. Daher ist es ein leichtes für mich, Trainingskollegen zu finden. An diesem Nachmittag fahren wir mit dem Rennvelo auf den Berninapass und retour. Ich erhoffe mir eine gemütliche Abendausfahrt – daraus wird jedoch nichts. Das Training verkommt zu einem Ausscheidungsrennen. Ob das der Absenz von Wettkämpfen geschuldet ist? 89,3 Kilometer pro Stunde zeigt die GPS-Uhr als Höchstgeschwindigkeit bei der Abfahrt an, ein bisschen Adrenalinkick muss halt auch sein.

Am Abend fühlen sich meine Beine extrem verspannt an, ich spüre die vielen Trainingsstunden in den Knochen. Doch Stretching gehört definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Wenn mich meine Trainer zu Beweglichkeitsübungen auffordern, gebe ich gerne meinen Standartspruch zur Antwort:» Hast du schon einmal ein Reh stretchen gesehen?» Doch nun komme ich nicht drum rum, es muss einfach sein. Ohne Druck des Trainers nehme ich die Yogamatte hervor und arbeite an meiner eingeschränkten Beweglichkeit.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Finden keine Wettkämpfe statt, verkommen Trainings im Gruppetto zu einem Wettkampf.
  • 89,3 km/h ist nicht der Top-Speed vom Mazda 6 von meiner Kollegin, sondern die Höchstgeschwindigkeit bei dieser Trainingseinheit.

 

Samstag:
Pizzoccheri und Panna cotta

Heute steht ein Tagesausflug ins schöne Puschlav an. Die Lockerungen des Bundesrats ermöglichen es mir, wieder OL-Trainings in urbanen Geländen durchzuführen. Diese Chance packe ich sogleich und absolviere ein Sprint-Training in Poschiavo. Es ist das erste Mal seit dem 16. März, dass ich wieder eine Sprint-OL-Karte in der Hand halte. Vor dem Start witzele ich noch mit meiner Freundin, ob ich die Spezialsymbole einer OL-Karte noch alle kennen würde... Beim Mittagessen auf dem Dorfplatz von Poschiavo lasse ich es mir gut gehen und es kommt etwas wie Ferienstimmung auf. Mit Pizzoccheri, Panna cotta und einer Cola fülle ich meine Batterien.

Am Nachmittag steht ein langer Lauf ins malerische Val da Camp auf dem Programm. Das Hauptziel ist der Lagh da Saoseo. Spätestens seit der Generation Instagram ist dieser See leider kein Geheimtipp mehr. Wäre es nicht regnerisch und kühl, würde das glasklare, türkisblaue Wasser zum Baden einladen. Der zweieinhalbstündige Ausflug wird mir aber auch wegen dem kurzen Hagelgewitter und den gesichteten Steinböcken in Erinnerung bleiben.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Nach drei Monaten ohne Sprinttraining machte das erste Training wieder mächtig Spass.
  • Auch ohne Instagram Account lässt sich der Lagh da Saoseo geniessen.

Sonntag:
Der perfekte Abschluss

Nach einer langen und auch harten Woche findet in Zuoz ein gemeinsames Sprinttraining mit dem Nationalkader statt. Insgesamt gilt es vier Schlaufen zu absolvieren. Nach jeweils einem Hügelsprint folgt eine Sprintrunde im verwinkelten Dorf. Meine Beine fühlen sich nicht mehr frisch an. Das hohe Trainingsvolumen der letzten Tage macht sich bemerkbar, ich brauche dringend Erholung.

Das Engadin präsentiert sich an diesem Tag zudem auch noch grau und nass. Das schlechte Wetter nimmt mir den Entscheid ab, ob ich am Nachmittag nochmals die Schuhe schnüren soll. Ein einziges Mal wage ich mich dennoch nochmals nach draussen. Zum gemütlichen Ausklang habe ich mit Kollegen in einer Pizzeria abgemacht.

Gewonnene Erkenntnisse:

  • Erholung würde mir gut tun!
  • Was gibt es Schöneres, als eine feine Pizza mit guten Kollegen am Sonntagabend!

 

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