Nachwehen von der EM hatte ich glücklicherweise keine. Ich erholte mich relativ schnell von den Strapazen in Estland. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich für rund zwei Wochen im Training etwas mehr Leiden würde als gewohnt, bis sich das gute Laufgefühl bei den intensiven Trainings wieder einstellen würde. In der Tat waren die ersten schnellen Trainings kein Genuss. Doch mit jedem Training stellte sich ein besseres Gefühl ein und ich fühlte mich nach zwei unaufgeregten Trainingswochen bereit für die Herbstsaison.
Der erste wichtige Wettkampf für mich nach der EM war die Mittel-SM. In der unmittelbaren Vorbereitung lag der Fokus jedoch nicht auf besagtem Wettkampf, sondern auf der Staffel-SM, die am Tag nach der Mittel-SM über die Bühne ging.
Zusammen mit Sarina waren wir für die Bahnlegung verantwortlich. Folglich setzten wir am Samstagvormittag die Posten (welches Verb ist eigentlich ideal? Posten setzen? Posten stellen? Posten platzieren oder gar Posten verstecken?). Als ich einen Sektor gesetzt und einen Sektor kontrolliert hatte, ging es an die Detailpflege. Auf dem Weg zum letzten Posten lag ein grosser Asthaufen etwas unglücklich auf der Idealroute. Diesen wollte ich noch beseitigen, so dass einem fairen Zweikampf am Ende eines Staffelrennens nichts mehr im Wege stehen sollte. Es fehlte mir nicht die Kraft, dass ich die Äste innert kurzer Zeit hätte wegräumen können (ist zwar konjunktiv, aber ich traute dies meinen Oberarmen wirklich zu), sondern ich trat den Rückzug an, als ich wortwörtlich in ein Wespennest griff. Innert kurzer Zeit schwirrten hunderte Wespen in der Luft. Eine war schnell genug und malträtierte meine Wade. Den Wespen gut zureden half nichts und auch die örtliche Feuerwehr konnte nicht die gewünschte Wirkung mit ihren «Mitteli» erzielen. Es blieb uns nichts anderes übrig als die besagte Stelle abzusperren.
Mir ist keine Wespenallergie bekannt. Doch ideal war der Stich in die Wade gut drei Stunden vor der Mittel-SM sicherlich nicht. Es blieb mir gar keine Zeit, mir zu viele Gedanken darüber zu machen, da der Zeitplan eng getaktet war an diesem Tag. Wir düsten unmittelbar nach dem Zwischenfall nach Corcelles und konzentrierten uns auf die wartenden Herausforderungen der Mittel-SM. Physisch fühlte ich mich an diesem Tag nicht top, doch mit einem fehlerfreien Lauf konnte ich mir den 18. Einzel-SM Titel bei der Elite sichern.
Nach dem Wettkampf ging es zurück nach Gondiswil. Wir übernachteten im Zelt vor Ort, so dass wir nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehen mussten (da wir am Sonntagmorgen noch «kästeln» mussten vor dem Wettkampfstart (auch ein gutes Verb)). Die Idee klang romantisch und gut durchdacht. Doch der Wespenstich in Kombination mit dem Wettkampf und der danach fehlenden Dusche hatte eine unangenehme Auswirkung. Mein Bein knieabwärts schwoll an und mein Knöchel versank in der Geschwulst, wie die Titanic vor 100 Jahren im atlantischen Ozean. Zudem war im Nachbarsdorf noch das Dorffest des Jahres und der Bass der Disco soll sogar der Seismograf des Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH Zürich registriert haben. Die Musik wurde just in dem Moment abgestellt, als der Hahn vom Bauernhof um 5.30 Uhr den Tag zum Leben erweckte. Oh Wunder, ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht.
Zum Startzeitpunkt waren dann aber alle Posten und SI-Einheiten an der richtigen Stelle und wir warteten gespannt auf die Feedbacks der Läuferinnen und Läufer. Die Staffel-SM ging, abgesehen von ein paar Zwischenfällen mit Wespen, aus unserer Sicht reibungslos über die Bühne. Der Wechsel vom Läufer zum Organisator hat mir gutgetan. Es hat mir erneut aufgezeigt, wie viel Aufwand und Herzblut Woche für Woche in die Organisation von Wettkämpfen gesteckt wird. Ein solcher Perspektivenwechsel ist lehrreich und er zeigt, wie wichtig es ist das freiwillige Engagement von Organisatoren besonders wertzuschätzen!
Mit grosser Vorfreude reiste ich eine Woche später an die Wettkämpfe in Campra. Das Gelände südlich des Lukmanierpass lädt förmlich ein zum OL machen. Die Startliste war zudem gespickt mit internationalen Top-Läufern. Als ich um 17:45 Uhr als letzter von 113 Läufern die Karte in die Hand nahm, war ich motiviert, eine Duftmarke im alpinen Gelände zu hinterlassen. Unterwegs waren mir keine Fehler bewusst und als ich ins Ziel kam, war ich mit meiner Leistung zufrieden. Der schwedische Top-Läufer Gustav Bergman schaute im Ziel auf die Uhr und meinte, dass ich ihn um knapp eine halbe Minute geschlagen hätte. Als er dann beim Auslesen der SI-Card realisierte, dass ich knapp 2.5 Minuten schneller war, da schluckte er einmal kurz leer. Da wurde mir erst bewusst, dass mir ein sehr guter Lauf geglückt war.
Auch an diesem Wochenende hat der Seismograf des Erdbebeninstitutes ausgeschlagen.
Als unsere Tessiner Kollegen zur Siegerehrung ansetzten, verwandelten sie die OL-Beiz in eine stimmungsvolle Festhütte. Das gefiel mir so sehr, dass ich Lust verspürte diese Zeremonie am Sonntag erneut über mich ergehen zu lassen.
Mit dieser Motivation im Hinterkopf startete ich über die verkürzte Langdistanz. Und siehe da: Auch über die verkürzte Langdistanz konnte ich mich klar durchsetzen!
Dass dies mein letztes Highlight in der OL-Saison 2022 sein sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Zwei Wochen später verletze ich mich beim Selektionslauf für das Weltcupfinale am Fuss. Dass ich den Wettkampf noch gewinnen konnte, zähle ich ganz und gar nicht als Highlight. Bald war klar, dass dies meine letzten Schritte mit Karte und Kompass im 2022 waren und ich die Saison abbrechen muss. Nach einer missglückten EM-(Vorbereitung) musste ich somit die Segel für das zweite grosse sportliche Ziel im Herbst streichen. Im Weltcup bin ich nur an drei von sechs möglichen Läufen gestartet. In Anbetracht der guten Leistungen am Tessiner-Wochenende hatte ich mir durchaus auch noch Chancen auf eine gute Platzierung im Gesamtweltcup ausgerechnet. Der verfrühte Saisonabbruch war ein Dämpfer, da meine Vorfreude auf das Weltcupfinale gross war.
So erlebte ich innert kurzer Zeit ein zweites Mal einen Perspektivenwechsel. Nicht als Läufer, auch nicht als Organisator, sondern als Zuschauer verfolgte ich die Wettkämpfe am Weltcupfinal. Wer wissen will, wie ich das Weltcupfinale erlebte, dem empfehle ich meinen Bericht im Swiss Orienteering Magazine zu lesen!
5 Wochen dauerte meine ungeplante Saisonpause. Nur ein wenig Rumpfkraft durfte ich in dieser Phase machen, um meinem Bewegungsdrang ein wenig gerecht zu werden. Auch wenn sich die Zwangspause am Ende lang anfühlte, so war ich froh, dass ich auf ein kompetentes medizinisches Umfeld zählen durfte, dass mir eine gute Strategie für den Heilungsprozess aufzeigte. An dieser Stelle gebührt Ihnen ein grosser Dank!
Nach 5 Wochen Pause war ich sehr motiviert für die ersten Trainingseinheiten auf dem Velo. Doch ich muss gestehen, dass ich «Trainieren» verlernt hatte. Ich schwang mich nach der Arbeit auf den Sattel und trat voller Wucht in die Pedale, ohne vorher noch ein Zvieri gegessen zu haben. In meiner Vorstellung romantisierte ich das Training. Es sollte sich locker anfühlen und mir wieder viele Glückshormone durch den Körper jagen. So wie vor der Verletzung. Die Realität war eine andere. Die Wirklichkeit holte mich schneller ein, als mir lieb war.
Nach 70 Minuten war «Flasche leer», jede Umdrehung der Pedale war ein Krampf und ich war nahe an einem Hungerast. Glücklicherweise erspähte ich in diesem Moment einen Selecta-Automaten! Eines kann ich versichern: Die Schokolade, die ich da gegessen hatte, war mit Abstand die Beste der letzten 5 Wochen!