Die WM-Woche hatten wir bei der Abschlussparty weltmeisterlich gefeiert! Die Heimreise trat ich am Montagmittag folglich mit kleinen Augen an. Diese Müdigkeit konnte ich mir aber leisten, denn die Verpflichtungen in der Woche nach einer OL-WM sind gering. Der Speaker hat mich an der WM gefragt, ob ich einen Assistenten benötigen würde, um alle Anfragen beantworten zu können. Mir war klar, dass dem nicht so sein würde und ich die eintreffenden Anfragen an einer Hand abzählen könnte. Meine Erfahrung gab mir recht. Am Montag klingelte mein Telefon noch zweimal und das wars dann auch schon. Medial wurde die WM während der Wettkämpfe intensiv begleitet. Doch sobald das letzte Rennen durch war, schwand das mediale Interesse schneller als Gelati in der Sommerhitze.
Zuhause angekommen, schleppte ich den Koffer in die Wohnung und stand mutterseelenalleine mit einem Glas Wasser in der Küche (feiern gibt Durst…). Es herrschte eine gespenstige Ruhe. Der Kontrast zu einer intensiven WM-Woche konnte grösser kaum sein. Diese Leere aushalten zu können, nachdem man eine Woche lang auf dem grössten OL-Rummelplatz der Welt getanzt hatte, das nennt man aus meiner Sicht «den WM-Blues überwinden».
Am Montagnachmittag nahm ich das Badetuch unter die Arme und frönte ungestört mitten unter tausend Badegästen im Berner Freibad «Marzilli» dem Sommer. Das sind die positiven Seiten, dass wir keine Sportstars sind. Ganz ehrlich: In der Aare schwimmen sagt mir mehr zu, als 100 Medienanfragen zu beantworten - auch wenn ich dies natürlich mit Geduld machen würde.
Der WM-Blues holte mich in dieser Woche nicht ein. Ich hatte auch schlichtweg keine Zeit dafür. Am Dienstagvormittag war bereits ein Meeting bei der Arbeit geplant. Aufgrund von Sommerferienabwesenheiten musste eine Übergabe von Arbeiten stattfinden. Die Übergabe wurde von meinen Arbeitskolleginnen dazu genutzt, um mich mit einer kleinen Feier zu überraschen! Übernächtigt wie ich war, bemerkte ich nichts von der Vorbereitung der Feier und die Überraschung glückte vollauf!
Dass ich die körperlichen Strapazen von der WM-Woche schnell wegstecken würde, davon war ich überzeugt. Doch ich hatte grossen Respekt davor, wie schnell ich mich im Mentalbereich von der WM erholen würde. Hätte ich zwei Wochen nach der Heim-WM bereits wieder den notwendigen Biss, um am Weltcup in Tschechien um die Podestplätze zu laufen? Eine Strategie, wie ich dieser Herausforderung begegnen wollte, hatte ich nicht auf Lager. Ich musste es herausfinden!
Dass ich für die Sprintwettkämpfe im Herbst nicht von Anfang an Feuer und Flamme war, zeigte der Umstand, dass ich bis zum Weltcupsprint in Tschechien seit März nur vier Sprinttrainings absolviert hatte. Auf der anderen Seite war ich sehr motiviert nach Tschechien zu reisen, weil mich die Vergangenheit lehrte, dass uns tolle Gelände und interessante Wettkämpfe erwarten würden.
Zwischen ich «will» (der Ehrgeiz ging an der WM nicht verloren), ich «sollte» (WM-Resultate bestätigen) ich «muss» (es gab wichtige Punkte für den Gesamtweltcup zu gewinnen) und ich «kann» (dieses Gelände behagte mir bereits zwei Jahre zuvor an der WM) suchte ich nach der richtigen Renneinstellung. Nach dem ersten Rennen zeigte sich, dass die Sorgen um einen allfälligen Motivationsverlust unbegründet waren. Mit den Rängen 4 (Sprint), 1 (Sprintstaffel), 3 (Mitteldistanz) und 2 (Langdistanz) zeigte ich starke Leistungen und konnte an die Resultate der WM anknüpfen.
Nach dem Weltcup in Tschechien hätte der Fokus so schnell als möglich auf die Sprint-EM switchen sollen. Ich gönnte mir aber noch den Berglaufklassier Sierre-Zinal. Mit vier Weltcuprennen in den Knochen, war das alles andere als optimal. Das Rennen – obwohl für meine Stärken tendenziell zu steil und zu lang – übt auf mich gleichwohl eine Faszination aus. Nach 2h39min war ich froh, das Ziel erreicht zu haben. Im Ziel schwor ich mir: Ich laufe das Rennen nur noch, wenn ich mich auch entsprechend vorbereiten kann!
Nach Sierre-Zinal blieben sechs Wochen Zeit, um mich von der Ruhe im Val d’Anniviers an die Menschenmassen in Verona zu gewöhnen. 100% konnte ich den Fokus aber nicht auf die Sprintdistanzen legen. Im Herbst standen noch die Schweizermeisterschaften über die Mittel- und Langdistanz auf dem Programm. Für mich kamen diese Wettkämpfe eher ungelegen. Mitten zwischen Kurzintervallen auf der Bahn, musste ich 90 Minuten im Jura auf Postensuche gehen. Der internationale und der nationale Kalender sind hinsichtlich Daten gut abgestimmt, im Hinblick auf die Disziplinen liegt jedoch ein Flickenteppich vor. Dies führt dazu, dass die Trainingssteuerung einer «eierlegenden Wollmilchsau» gleicht. Die Situation ist aus meiner Sicht nicht ideal. Früher gab es auch bereits Konflikte zwischen der nationalen und der internationalen Saison. Da war es insofern anders, dass ich als Allrounder von den Rennen im nationalen Kalender für die internationalen Rennen profitieren konnte. Aufgrund der Spezialisierung (nur Wald oder nur Stadt) ist dies aktuell oft nicht mehr der Fall. Aus meiner Sicht ist das nicht optimal und dieser Disziplinen-Konflikt wird sich in Kürze auch nicht lösen lassen, solange die EM und die WM nur als «Sprint» respektive «Wald» ausgetragen werden. Es ist aber nicht nur ein schweizerisches Problem, daher kämpfen fast alle Läufer*innen mit denselben Schwierigkeiten. Somit kann man sagen, alle haben die gleichen Voraussetzungen. Aber befriedigend ist es trotzdem nicht, wenn man in der Vorbereitung auf eine internationale Meisterschaft viele Kompromisse im Training eingehen muss.
An den Resultaten gab es jedoch rein gar nichts auszusetzen. An der Mittel- und Lang-SM schnappte ich mir die SM-Titel Nummer 20 und 21. Sich schnell an neue Gelände und Gegebenheiten anpassen, das war schon immer eine meiner Stärken. Mühe bereitet mir dafür, einen Geländetypen akribisch zu analysieren und mich zu verbessern, je mehr Trainings ich im entsprechenden Geländetyp absolviere. Etwas salopp gesagt, habe ich das Gefühl, dass ich mit drei oder 300 OL-Trainings fast den gleichen Output im Wettkampf erreichen kann.
Das Trainingslager am Gardasee beinhaltete sechs Trainings und war eine Woche vor der EM wortwörtlich Gold wert. Ich adaptierte meine Technik an italienische Altstädte und lernte beim Sprinten den Fokus zu behalten, auch wenn gerade wieder einmal eine Hochzeitsfeier, ein spontaner Karneval oder einfach der ganz normale Touristenwahnsinn am Gardasee die Strasse blockierte.
Nach dieser Woche hätte selbst Slalomlegende Alberto Tomba Mühe gehabt, gekonnter als ich um die Menschenmassen zu kurven. Nach vier intensiven Trainingstagen und einigen Gelati war ich überzeugt: Ich bin bereit für die EM!