Bella Italia: Der Name war Programm. Schwimmen im Gardasee, Wettkämpfe in historischen Altstädten und abwechselnd Pizza und Pasta Pomodoro zum Essen! Die EM in Norditalien wurde zum perfekten Saisonabschluss!
Zu viel Ferienstimmung durfte auf dem Campingplatz «Bella Italia» am Gardasee jedoch nicht aufkommen. Durch das Angebot von Disco, Tschutschu-Zügli und Gelateria bestand das Potenzial, in den Ferienmodus abzudriften. Widerstehen konnte ich nicht allen Angeboten, doch der Fokus litt nicht allzu stark. Dass ich nicht 100% auf der Höhe war bei der Sprintqualifikation und meinen Fokus nachjustieren musste, realisierte ich umgehend nach der Ziellinie. Nur 10 Sekunden Marge hatte ich auf den letzten Qualiplatz. Die Zuschauerrolle beim Sprintfinal war noch nie so nah, aber ich wendete sie gerade noch ab. Qualifikationsrennen bei Europameisterschaften sind nervenaufreibend. Die Zeitabstände sind eng und viel zu gewinnen gibt es für mich nicht. Marge einbauen ist nicht möglich, da ein kleiner Fehler das Aus bedeuten kann. Trotz dieses Wissens muss ich die Anspannung über den Tag so verteilen, dass ich jeweils beim Finallauf noch volle Kanüle geben kann. Dieses Jahr kam erschwerend dazu, dass ich vor dem Start zur Quali von EM-Stimmung noch nichts mitbekommen hatte. Ich liess nämlich die Eröffnungsfeier sausen. Nach 6 Stunden Autofahrt lehnte ich dankend ab, nochmals 1.5 Stunden im Auto zu sitzen um an der Eröffnungsfeier teilzunehmen. Früher hätte ich mir dieses Programm noch zugetraut und mir keine Gedanken über schwere Beine nach langen Autofahrten gemacht. Doch auch ich werde älter…
Die Anspannung wurde auch in unmittelbarem Vorfeld der Qualifikation nicht wirklich grösser. Als ich mich zum Einlaufen aufmachte, glich der Vorstartbereich eher einem vergessen gegangen Schulsporttag, als dem Einlaufbereich einer EM-Qualifikation. Was die Italiener in gelassener Manier spontan noch fünf Minuten vor dem ersten Start fixten, war wohl bei den Schweizer WM-Organisatoren sekundengenau über drei Sitzungen bis spät in die Nacht mit Traktandenliste und Protokoll geplant worden. Fairerweise muss man sagen, dass die Qualifikation tadellos über die Bühne ging und die grosse Show für den Nachmittag aufgespart wurde.
Mit Rang 10 qualifizierte ich mich für den Final denkbar knapp. Meinem Selbstvertrauen tat dies erstaunlicherweise keinen Abbruch. Ich war überzeugt, dass mir das Finale in Verona liegen würde.
Die Bahn war dann wie auf mich zugeschnitten. Vom Charakter her erinnerte sie mich an die Sprintanfänge vor 10 Jahren. Einige spannende Routenwahlen, keine «Fallen», aber das Tempo und die Konzentration mussten vom ersten Meter bis zur Ziellinie hochgehalten werden. Ausser einer langsameren Route zu Posten 1 glückte mir ein vorzügliches Rennen vorbei an der Casa di Giulietta, quer über den Piazza delle Erbe in Richtung Ziel bei der Arena di Verona.
Die Ziellinie überquerte ich mit Bestzeit und ich war sehr zufrieden mit meinem Lauf. Mir war bewusst, dass diese Zeit gut war, doch für was würde sie reichen?
Das lange Warten begann. 27 Läufer starteten noch nach mir und versuchten meine Zeit zu unterbieten. Es zeichnete sich ein Sekundenkrimi ab. Ich war nervöser als vor dem Lauf. Francois Gonon updatete mich im 30 Sekundentakt über die verschiedenen Zwischenzeiten. Eine Tendenz erkannten wir bei den Zwischenzeiten. Von der letzten Zwischenzeit bis ins Ziel verloren die allermeisten Läufer einige Sekunden. Als die Besten der Qualifikation praktisch zeitgleich wie ich bei der letzten Zwischenzeit auftauchten, stieg die Anspannung nochmals merklich. Dennoch war ich guten Mutes, da mein Schlussspurt exzellent gewesen war. Hierzu ein kleiner Tipp: Augen zu und auf die Zähne beissen, bis die Ziellinie kommt!
Als auch der Letztstartende meine Zeit nicht unterbieten konnte, war die Freude riesig. Nachdem ich im Sommer an der WM als letztstartender WM-Gold gewann, erlebte ich an diesem Tag das komplette Gegenteil. Diesmal musste ich mich 30 Minuten in der Rolle des Zuschauers üben, bis der Sieg feststand. Beide Szenarien haben ihren Reiz 😊. Banges Warten auszuhalten ist aber sicherlich anstrengender!
Ob es die bangen Momente nach der Ziellinie, das Gelato bei der Siegesfeier oder das Bad im Gardasee war - zwei Tage nach dem Triumph beim Einzelsprint zeigte ich mein schwächstes Rennen in diesem Jahr. Simona Aebersold und Joey Hadorn schickten mich unmittelbar nach dem führenden schwedischen Team ins Rennen. Zum ersten Posten stand eine lange Routenwahl an.
Anstatt mich in Geduld zu üben und mich für eine Route zu entscheiden und meine nächste Handlung genau zu kennen, lief ich zu forsch drauflos. So kam es wie es kommen musste. Ich wägte mich in der falschen Gasse und musste einen grossen Umweg in Kauf nehmen. Nach gut einer Rennminute wusste ich, dass es heute an mir liegen würde, wenn wir den Kampf um die Medaillen verlieren würden. Ein klassischer Staffelfehler, wie er mir nicht hätte passieren dürfen! Wie so oft nach einem Fehler folgte dann auch noch ein physischer Einbruch. Der Körper machte nur noch halbpatzig mit und ich mühte mich über die Bahn. Schwedens Vorsprung vergrösserte sich zunehmend und ich musste Norwegen und Finnland aufschliessen lassen. Die Vorentscheidung um die Goldmedaille war gefallen, immerhin konnte ich unser Team im Kampf um die Medaillen halten.
Unserer Schlussläuferin Elena Howald-Roos übergab ich eine schwierige Aufgabe. Sie meisterte diese aber souverän und sicherte uns die Silbermedaille. Im Schweizerteam aufgestellt zu werden ist ein Privileg. Liefert man Mal nicht, dann holen deine drei Teamkamerad: innen die Kohlen aus dem Feuer. Läuft es allen Vieren wie gewünscht, dann ist es möglich nach den Sternen zu greifen!
Angestachelt von der schwachen Leistung in der Sprintstaffel (ich verlor beinahe eine Minute auf die Streckenbestzeit) bereitete ich mich auf den KO-Sprint vor. Es ging beim letzten Rennen um nicht weniger als um den Sieg im Gesamtweltcup. Mit einem Sieg beim letzten Rennen hätte sich Kasper Fosser unmittelbar hinter mir auf Rang 2 klassieren müssen, um die Führung im Gesamtweltcup verteidigen zu können.
Die erste Schwierigkeit bestand darin, die neunminütige Qualifikation zu überstehen. Von der Qualifikation vom Einzelsprint wussten wir, dass es eine enge Kiste werden würde. Entsprechend aktivierte ich mich vor dem Lauf und drückte auf die Tube. Da ich als Erster startete, wusste ich im Ziel nicht wirklich, was meine Zeit Wert war. Als die stärksten Konkurrenten sich hinter mir klassierten, konnte ich durchschnaufen und mich um 10 Uhr morgens auf meine heiss geliebten Pasta Pomodoro stürzen.
14 bis maximal 25 Sekunden durfte man in den jeweiligen Heats auf die Bestzeit verlieren, um einen der begehrten Plätze für die Finalläufe zu ergattern.
Mit Startnummer 1 nahm ich die Finalläufe in Angriff. Die Nummer 1 gab ich an diesem Nachmitttag nicht mehr aus der Hand. Die Ziellinie im Viertel-, im Halb- und im Final überquerte ich jeweils zuvorderst. Ein letztes Mal zehrte ich von meiner guten Form in dieser Saison und auch etwas vom Selbstvertrauen eines Doppelweltmeisters.
So viel Lockerheit hatte ich bisher selten verspürt bei einem so wichtigen Rennen! Es war fantastisch und ein grosser Genuss, mit dieser Leichtigkeit das letzte Rennen der Saison bestreiten zu können. Ich weiss aber auch was es bedeutet, diese Lockerheit zu erarbeiten und dass es keine Garantie gibt, dass es jemals wieder so gut laufen wird. Daher genoss ich den Moment umso mehr, als ich die Hände in die Höhe strecken und meinen 9. Europameistertitel und den 6. Sieg im Gesamtweltcup bejubelte konnte!