Rückblick Teil 3: EM in Estland

Von den World Games nahm ich nicht nur viele Eindrücke mit nach Hause, sondern auch eine hartnäckige Erkältung. Die Klimaanlagen in den USA, in der Schweiz spricht man bei diesen Bedingungen von Kühlschränken, haben das ihre wohl dazu beigetragen.
Zu Hause angekommen blieb gerade genügend Zeit, um die Kleider zu waschen, den Koffer erneut zu packen und die Tasche mit Nastüchern zu füllen. Am Tag nach der Rückreise von Amerika tuckerte ich mit dem Zug und der Nachtfähre nach Schweden. Endlich war wieder Wald OL angesagt. Das bedeutet Heidelbeeren und Elche, nicht Randsteine und Autos. Tatsächlich sah ich beim ersten Wald OL-Training bereits vor Posten Nummer eins einen Elch. Es fühlte sich beinahe kitschig an (das Pendant beim Stadt-OL wäre wohl eine Celebrity, ein krasses Auto oder der Duft einer Dönerbude. Darüber hätte ich mich aber nie so gefreut…).

Die Zeit mit Freunden habe ich in Schweden sehr genossen. Ein Hüttli im Wald, tolles OL-Gelände und ein See zum Baden. Was will man mehr?


Von Schweden ging die Reise weiter nach Estland ins Vorbereitungstrainingslager für die EM. An Estland hatte ich eher schlechte Erinnerungen. 2017 blieb ich an der WM glücklos. Sekundenpech im Sprint, Linsenfiasko bei der Langdistanz und Überstunden in der Staffelquarantäne - es war 2017 definitiv keine grossartige WM-Woche für mich.
Kaum angekommen in Estland nahm das Unheil wieder seinen Lauf. Corona liess ein weiteres Mal grüssen. Anstatt den letzten Schliff im estnischen Gelände zu holen, starrte ich vom Bett aus nach oben und zählte die Astringe in der Holzdecke (sofern ich nicht am Schlafen war).

Während den letzten beiden Tagen vor der Mitteldistanzqualifikation war an ein Training nicht zu denken (also daran gedacht hatte ich schon, aber eine Option war es nicht…). Ich war fest überzeugt, dass ein Start bei der Mitteldistanzqualifikation dann schon irgendwie möglich sein würde. Zu diesem Zeitpunkt war mir aber bereits klar, dass ich nicht die Kapazität haben würde, die Langdistanz in Angriff zu nehmen. Den Startentscheid für die Mitteldistanzqualifikation wollte ich am Morgen vor dem Wettkampf fällen.
Als wäre die Coronaerkrankung noch nicht genug, hing über all dem noch ein Damoklesschwert. Das halbe Schweizer EM-Team litt unter einem hartnäckigen Magen-Darm-Käfer. Dieser hatte mich bis zum besagten Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht erreicht…

Nach einem Footing von zehn Minuten am Morgen vor der Mitteldistanzqualifikation traute ich mir einen Start zu. Nicht dass ich mich gut gefühlt hätte, aber einen Versuch wars mir wert. Die Qualifikation war technisch sehr anspruchsvoll. An diesem Tag kam mir das sehr gelegen. Ich kämpfte mich fehlerfrei durch den estnischen Busch und sicherte mir die Teilnahme im Final. Das erste Ziel meines reduzierten Schlachtplans konnte ich abhaken. Zwei weitere «Ruhetage» hätten das seine dazu beitragen sollen, dass ich bei der Mitteldistanz und der Staffel doch einigermassen fit am Start stehen sollte.
Doch mein persönlicher Estlandfluch holte mich bald wieder ein. In der Nacht nach der Mitteldistanzqualifikation machte sich auch bei mir der Magen-Darm Käfer bemerkbar. Mein Energieniveau sank von Stunde zu Stunde. Bereits der Weg zum Morgenessen fühlte sich wie eine Langdistanz an. Wüsste man es nicht besser, ich hätte glatt der Auslöser der Energiekriese sein können…


Die Mitteldistanz verlief dann auch den Erwartungen entsprechend harzig. Nach einem überraschend guten Start konnte ich die Konzentration und das Tempo im Mittelteil und gegen Ende der Bahn nicht mehr aufbringen und klassierte mich nach mehreren Fehlern fernab der Topplätze auf Rang 29.

Kurz nach dem Ziel kam der Nationaltrainer zu mir und erklärte mir, dass er an mir festhalten will und ich im Team 1 die Staffel laufen sollte. Ein wenig unglaubwürdig schaute ich ihn an. Doch an seiner Reaktion entnahm ich, dass er es ernst meinte und ich trotz allen Umständen die Schlussstrecke laufen sollte.
Als wir uns am Abend zur Sitzung im Team 1 trafen, war da kein Pathos vorhanden. Sätze wie «Ich glaube schon, dass ich es morgen besser machen kann» oder «Ich glaube, es sollte schon irgendwie gehen» waren Standard. Die Aussage: «Wenn wir die heutigen Zeiten der Mitteldistanz zusammenzählen und mit denen der Schweden vergleichen, würden wir morgen beinahe überrundet werden!», war dann schwarzer Humor. Wir waren angezählt am Vorabend, aber wir waren noch nicht geschlagen.

Aus dieser Position ins Rennen zu gehen war für unser Trio ungewohnt. Doch am Tag der Staffel überraschten wir nicht nur uns, sondern auch einige gegnerische Teams.
Wie der Phönix aus der Asche: So kann man unsere Leistung nach der enttäuschenden Mitteldistanz bei der Staffel beschreiben. Der letzte Kick hat uns zwar noch gefehlt. Doch an diesem Tag beherrschten wir unser Handwerk und wir sicherten uns mit drei guten Leistungen die Bronzemedaille.
Es war ein versöhnlicher Abschluss nach 12 sch…wierigen Tagen in Estland.

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