Zählt man die Rückstände auf die Gewinner des Sprint-, Mittel- und Staffelrennens zusammen, so komme ich nach drei Wettkämpfen auf gerade einmal 50 Sekunden Rückstand. Unter diesem Aspekt darf ich sicherlich zufrieden sein mit meinen Leistungen bei den drei ersten Läufen an der WM. Leider resultierte «nur» eine Medaille daraus. Es verdeutlicht, wie eng die Zeitabstände bei den Rennen waren und dass ich die Sekunden nicht auf meiner Seite hatte.
Letztes Jahr hatte ich an der WM richtig zu kämpfen mit Enttäuschungen. 0.5 Sekunden waren es im Sprint auf die Medaille und mindestens eine Linse zu wenig, um die Langdistanz erfolgreich zu meistern. Da baute sich letztes Jahr viel Frust auf. Das Selbstvertrauen war nach diesen Erlebnissen weg und in der Folge lief ich auch bei der Mitteldistanz unter meinem Wert.
Warum erinnere ich mich an diese Rennen? Ich beschäftigte mich im Winter stark mit der Thematik des Scheiterns und des Wiederaufstehens. Ich wollte es besser machen, sollte ich wieder in eine ähnliche Situation kommen. An der EM hatte ich erfreulicherweise keine Chance erhalten, nach negativen Erlebnissen den Winning Spirit wieder finden zu müssen. An der WM durfte (musste) ich aber ein erstes Mal das im Winter Gelernte umsetzen!
Der Sprint war der erste kleine Dämpfer. Im Sekundenkrimi um Bronze hatte ich das Nachsehen. Im Ziel kamen mir etliche Situationen in den Sinn, wo ich die zwei Sekunden hätte schneller sein können. Es waren nicht nur langsamere Routen, sondern auch Touristenzüge, Autos und zwei Stürze. Das «Hätte-Wenn-und-Aber-Karussell» brachte ich an diesem Tag aber relativ schnell zum Stillstand. Andreas so glücklich zu sehen und die Medaille in der Familie zu haben, entschädigte für meinen 5. Rang. Ich freute mich mit ihm, auch wenn er mich nun bis ans Lebensende immer wieder daran erinnern wird, dass er im Ziel mindestens zwei Schritte und eine Brustlänge voraus war (Cooler Bericht dazu auf www.kyburzfanclub.ch)!
Im Mitteldistanzrennen machte ich einen Fehler zum ersten Posten. Zudem muss ich zugeben, dass meine Route zu Posten 7 wirklich keine gute Idee war. Doch als ich ins Ziel kam, lag ich in Führung. Die Führung hielt noch immer bestand, als nur noch drei Läufer ausstehend waren. Doch mir wurde schnell klar, dass es nicht gut aussah für eine Medaille. Alle drei Läufer schoben sich just vor mich. Ich verpasste die Medaille um Haaresbreite und musste mit Rang 4 Vorlieb nehmen! Wiederum so knapp hinter den Medaillen zu sein, war schon hart! Doch ich versuchte mich nicht in Selbstmitleid zu wälzen. Mit meiner Leistung war ich nämlich weitestgehend zufrieden.
Auf dem Papier standen die Chancen gut, dass es in der Staffel für eine Medaille reichen könnte. Florian Howald und Daniel Hubmann klassierten sich im Mitteldistanzrennen auf den Rängen zwei und drei und waren in der Staffel für die Strecken eins und zwei vorgesehen. Doch spätestens seit letztem Jahr wusste ich, dass gute Resultate in den Einzelläufen keine Garantie für gute Staffelleistungen sind.
Das Leiden begann an diesem Tag für mich schon weit vor meinem eigentlichen Start. Florian und Daniel zeigten zu Beginn ihrer jeweiligen Strecken super Leistungen. Ihre gute Ausgangslage machten sie aber beide jeweils mit einem schlechten Schachzug kurz vor Rennende wieder zunichte. So startete ich in ungemütlicher Position 9 ins Rennen, mit etwas mehr als einer Minute Rückstand. Die Gabelungsvarianten waren dieses Jahr sicherlich kein Nachteil für unser Team und so konnte ich trotz einem Fehler auf der Startschlaufe in Tuchfühlung um die Medaillen bleiben. Was sich dann in den letzten zwanzig Minuten des Staffelrennens im Wald abspielte, war an Dramatik kaum zu überbieten. Kurz vor Schluss waren es noch neun Teams, die sich berechtigte Hoffnungen auf eine Medaille machen konnten. Eine Vorentscheidung fiel bei der letzten Routenwahl. Norwegen lief die direkte Variante, während ich mich für die Variante zur Strasse hinunter entschied. Als wir zu siebt in Richtung Schlussaufstieg rannten, hätte ich mich gerne einfach hingesessen und Gelati schnabuliert. Doch stattdessen fand ich den Krieger in mir, schluckte einmal leer und suchte mir den Rücken vom Franzosen Tranchand. Einfach keine Lücke aufreissen lassen war meine Devise. Oben angekommen bemerkte ich, dass wir ein Loch zu unseren Verfolgern aufreissen konnten. Tranchand seinerseits hatte aber auch einige Meter auf mich herausgelaufen. Doch zum zweitletzten Posten zögerte er kurz und schon war ich vorbei. Zum letzten Posten attackierte ich und schuf eine Lücke zu Frankreich. Erst als ich den letzten Posten quittierte, sah ich Norwegen vor mir im Zieleinlauf jubeln. Da wusste ich, es würde zur ersehnten Medaille reichen! Den Zieleinlauf konnte ich dieses Mal nicht wirklich geniessen. Ich war so am Limit und einfach nur froh, die Ziellinie zu überqueren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so verausgabt hatte. Im Nachhinein war es das Leiden natürlich so etwas von Wert. Silber im Staffel-Krimi, das war geil!
Mein grosses Ziel, die Langdistanz, stand noch an. Eine Medaille war in der Tasche und eine grosse Chance stand kurz vor der Tür. Ich wusste um meine Möglichkeiten und um meinen Aufwand, den ich für die Langdistanz betrieben hatte. Das Laktat der Staffel war aus den Beinen gewichen und ich fühlte mich locker und bereit wie noch nie! Ich hatte das Gefühl, dass es so etwas von angerichtet war.
Die Geschichte ab dem Start ist bekannt: Statt präzise mit dem Kompass zum Sumpfloch zu navigieren, stand ich schon nach 150 Metern mit nassen Füssen im Sumpf. Auch bei den folgenden Posten fand ich den Tritt nicht wunschgemäss und hatte Schwierigkeiten darauf zu reagieren. In der Folge wurde ich von Gustav Bergman eingeholt. (Herzlichen Dank IOF für das 2-Minuten-Startintervall. Wir Athleten sind darüber sehr glücklich. Denn wenn man in einer Gruppe bei der Zuschauerpassage vorbeikommt, erfährt man mindestens die doppelte Fanzustimmung, als wenn man alleine kommen würde. Das ist wirklich toll. In Schweden 2016 erhielt ich sogar noch viel mehr Unterstützung. Ich hörte meinen eigenen Atem kaum mehr, weil alle norwegischen, schwedischen, schweizerischen und lettischen Fans aus dem Häuschen waren bei der Zuschauerpassage.
Die IOF hat glücklicherweise und trotz Athletenprotesten das 2-Minuten-Startintervall beibehalten. Denn nur so ist ein gemeinsames Laufen im Wald und ein gemeinsames Anfeuern weiterhin möglich!)
Das mittlere Drittel der Bahn gelang mir dann wunschgemäss. Doch mit einer katastrophalen Umsetzung meiner Route zu Posten 20 verabschiedete ich mich definitiv aus dem Rennen um eine mögliche Medaille. Im Ziel war ich schwer enttäuscht über meine Leistung und auch etwas ratlos darüber, wie ich den Start so verschlafen konnte. Die Ratlosigkeit ist noch nicht ganz gewichen und ich tue mich schwer bei der Erkenntnissuche. Den Kopf zerbreche ich mir deswegen aber nicht. Im Sport ist ja das Schöne, dass immer wieder neue Chancen kommen. So nutzte ich die nächstmögliche Gelegenheit und dominierte in Scuol die Langdistanz-Schweizermeisterschaft in Abwesenheit von Daniel Hubmann und Fabian Hertner. Mit dem Sieg an der Langdistanz-Schweizermeisterschaft gewann ich zudem 1200 Schweizer Franken. Es ist das höchste Preisgeld, dass ich je an einem Eintagesrennen gewonnen habe im OL. Aber ihr könnt mir glauben: Obwohl es an der WM für den Weltmeister nur einen kräftigen Händedruck und Blumen gab (mal abgesehen von den Prämien), hätte ich mir gewünscht, ich hätte eine Woche früher zugeschlagen…