Knappe Entscheidungen an der WM

Ein Sportwissenschaftler hat mir nach der WM geschrieben, dass er es mir nicht zugetraut hätte, dass ich im Frühling einen Marathon laufen könnte und im Sommer in Finnland an der OL-WM eine Medaille gewinnen würde. Es ist eines der schönsten Komplimente, das ich nach der WM bekommen habe. Denn es zeigt, dass sich der grosse Aufwand, den ich in diese WM-Kampagne gesteckt habe, ausbezahlt hat.
Um es in Zahlen auszudrücken: In den letzten 100 Tagen vor der WM trainierte ich an 53 Tagen mit Karte und Kompass und verbrachte 35 Tage in Skandinavien.

Nach den durchzogenen Weltcupläufen in Idre Fjäll reiste ich verhalten optimistisch an die WM. Auf der einen Seite wusste ich, dass die letzten Trainingstage vor der WM nach Plan verliefen, doch da war auch die Unsicherheit, ob die Technik und der Speed im Gelände gut genug sein würden, um ein Wörtchen bei der Medaillenvergabe mitzureden.
Die WM in Finnland war für mich seit der Heim-WM in Flims/Laax eine grosse Motivation. Doch paradoxerweise wollte das innere Feuer im WM-Jahr nicht so richtig zu brennen beginnen. Noch am Vorabend der Mitteldistanzqualifikation beschäftigte es mich, dass ich keine Nervosität verspürte. Normalerweise verursachen die Grossanlässe bei mir genau diese magische Anspannung, die einen so lebendig macht – und die auch ein wenig süchtig macht. Doch dieses Jahr wollte der Funke einfach nicht springen. Das änderte sich glücklicherweise schlagartig nach der Mitteldistanzqualifikation. Beim ersten Wettkampf der WM zeigte ich ein fehlerfreies Rennen, mit dem ich mein Qualifikations-Heat gewann.
Kurzer Fun Fact: An der WM habe ich alle Mitteldistanz-Qualifikationsrennen gewonnen, bei denen ich angetreten bin (2013 FIN, 2019 NOR, 2021 CZE, 2023 SUI und 2025 FIN).
Dank diesem Qualisieg kippte ein Schalter in mir. Just im richtigen Moment waren das Feuer und der Glaube da, dass ich um die Medaillen laufen kann. Einige Stunden nach dem Rennen war ich nervöser als vor dem Rennen!

Das Finale in der Mitteldistanz begann denkbar schlecht für mich. Auf dem Weg zum 1. Posten tauchte ich ein erstes Mal unsanft in den finnischen Waldboden. Der Schrecken folgte, als ich realisierte, dass beim Kompass die Lupe abgebrochen war. Einen Ersatzkompass hatte ich dabei, aber keinen mit Lupe. Die finnischen WM-Karten waren glücklicherweise sehr gut leserlich (ein Kompliment an die Kartenaufnehmer), sodass der Verlust meines wichtigsten Hilfsmittels nicht zur ganz grossen Bürde wurde. Posten 1 und 2 erwischte ich dennoch nicht optimal, und es dauerte eine Weile, bis ich mich an das neue Setup gewöhnt hatte.
Zu Posten 4 schwenkte ich auf die altbewährte Taktik „simple macht schnell“, doch irgendwie schaffte ich es, die Hügel zu verwechseln, und lief zu früh von der Strasse weg. Ein weiterer Zeitverlust war die Folge. Ich war angezählt zu diesem Zeitpunkt, aber Game over war ich noch nicht.
Im Mittelteil der Bahn begann ich langsam, aber sicher aufzudrehen. Die allermeisten Posten standen genau dort, wo ich sie erwartete, und ich hatte auch das Gefühl, die notwendige Aggressivität in den Lauf zu bekommen, die es braucht, wenn man bei der Mitteldistanz um die Medaillen mitreden möchte. Auf der Schlussschlaufe sah ich dann auch noch den zwei Minuten vor mir gestarteten Läufer, was mir zusätzlich ein gutes Gefühl gab. Als ich den zweitletzten Posten stempelte, meinte ich im Wald gehört zu haben, dass das Publikum im Ziel lautstark auf diese Zwischenzeit reagierte. Das gab mir gerade nochmals einen Energieschub.
Doch just in dem Moment verpasste ich eine Abzweigung und lief einige Meter in die falsche Richtung. Im Zieleinlauf war es zu laut, um einzelne Stimmen herauszuhören. Ich sprintete zur Ziellinie und musste Sekunden nach deren Überquerung konsterniert feststellen, dass ich eine Sekunde zu lange im Wald verbracht hatte und auf dem 4. Rang landen würde. Im Nachhinein betrachtet kann man eine Sekunde überall gewinnen respektive verlieren – nicht nur ich, sondern auch Anton Johansson, der eine Sekunde schneller war als ich.
Doch im Moment vor Ort war es sehr bitter, weil ein entscheidender Moment so kurz vor dem Ziel war und ich das Gefühl nicht los wurde, dass ich die Medaille auf dem Weg zum letzten Posten aus der Hand gegeben hatte.

Apropos Hand: Nach einem ersten Frust, der sich aber recht schnell verzog (ich bin älter und wohl milder geworden – und auch wenn es komisch klingen mag, ich konnte mir glaubhaft einreden, dass meine Leistung dieselbe war, ob ich nun eine Sekunde schneller oder langsamer war), beschäftigte mich vor allem meine linke Hand. Während des Laufs bemerkte ich nicht, wo ich sie angeschlagen hatte, doch als ich im Ziel angehalten hatte, blutete sie wie wild. Bevor der Doktor einen Blick auf die Wunde warf, war mir klar, dass Nadel und Faden zum Zug kommen würden. Als wir zurück im Hotel waren, nähte der Doktor fünf saubere Stiche. Ich glaubte, damit wäre das Thema erledigt. Doch da irrte ich mich mehr als bei der Kreuzung auf dem Weg zum letzten Posten. Die ganze Nacht über pulsierte die Hand, und ich konnte sie kaum in einer Position halten, in der ich ruhig schlafen konnte. Folglich stand ich am nächsten Morgen etwas gerädert auf.

Es war aber wohl nicht der Müdigkeit geschuldet, dass ich den ersten Posten bei der Langdistanz suchte. Vielmehr traf der Bahnleger genau meinen wunden Punkt in meiner O-Technik: leicht schräg in einen detailarmen Hang. Das konnte ich noch nie gut und werde es wohl auch nie zur Perfektion beherrschen. Nach einer nicht optimalen Route zu Posten 2 und einem Fehler kurz vor der Zuschauerpassage (komplette Verwirrung aufgrund eines Absperrbandes des Organisators, das aus meiner Sicht dort nichts zu suchen hatte), war ich positiv überrascht, dass der Rückstand zu diesem Zeitpunkt des Rennens nicht grösser war. Im Mittelteil fand ich einen guten Rhythmus und konnte mein Konzept nach Plan umsetzen.


Ein Sturz und damit verbunden ein sehr unsanfter Zusammenstoss meines Oberschenkels mit einem Stein läutete dann viel zu früh das nahende Ende meiner Energiereserven ein. Ich kämpfte mich Posten für Posten dem Ziel entgegen, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, auf welchem Rang ich im Ziel landen könnte. Glücklicherweise bekam ich vom knappen Ausgang um die Medaillen nichts mit. Ich hätte mir wohl in die Hosen gemacht, hätte ich mitbekommen, dass ich kurz vor Schluss eine Sekunde vor dem vierten Rang auf Position drei lag. Als ich zum letzten Posten rannte, hörte ich den Speaker rufen, dass es wiederum sehr knapp werden würde um die Medaillen. Ich dachte nur: „Nicht schon wieder!“ und rannte so schnell, wie ich noch konnte, ins Ziel.
Das bange Warten, bis ich endlich verstand, ob es dieses Mal für die Medaille gereicht hatte, dauerte zum Glück nicht lange. Ich lag erschöpft am Boden, wollte es aber nicht so recht glauben, dass ich die Medaille auf sicher hatte. Erst als mir der Coach zu verstehen gab, dass mir diese Medaille keiner mehr nehmen konnte, kamen die Emotionen! Nach der knapp verpassten Medaille am Vortag war die Freude umso grösser!

Nebst der Bronzemedaille nahm ich von diesem Lauf aber auch noch eine Tomate mit. Natürlich keine im biologischen Sinne, sondern eine heftige Prellung am Oberschenkel. Während des Einlaufens zur Staffel hinkte ich noch ein wenig umher, doch im Rennen behinderte mich die Prellung zum Glück nicht.
Hubmann und Fabian Aebersold lösten ihre Aufgaben mit Bravour und lancierten mich an 2. Position, rund eine Minute vor den Rängen drei und vier. Mein Rückstand auf das führende norwegische Team betrug nur gerade 30 Sekunden. Auch wenn ich es mir gewünscht hätte – das norwegische Dress sah ich nie vor mir. Sicherlich hatte ich nicht mehr die leichtesten Beine nach der harten Langdistanz. Eine physische Topform hätte es an diesem Tag gebraucht, wenn ich eine Chance gegen Kaspar Fosser hätte haben wollen. So kam es, dass ich ein einsames Rennen im Stadtwald von Kuopio lief. Persönlich finde ich es schade, dass man sich für dieses Gelände entschieden hatte. Argumente gibt es hüben wie drüben (es gewinnen die Gleichen / die Besten haben ja Fehler gemacht / lokale Zuschauer aus Kuopio etc.). Doch aus meiner Sicht hat Finnland OL-technisch einfach mehr zu bieten – insbesondere für die Weltbesten! Die O-technischen Herausforderungen waren dann auch der Grund, warum ich nicht nervös wurde, als ich auf die Schlussschlaufe ging. Ich traute mir wirklich zu, alle diese Posten ohne Fehler anlaufen zu können. Dies gelang mir auch ohne grössere Zwischenfälle, und im Ziel durfte ich mich mit meinem Team über die Silbermedaille freuen.

Im Anschluss an die WM genoss ich mit meiner Familie noch zwei Ferienwochen in Finnland. Wir hatten zwei Wochen Traumwetter: Baden, Bullar essen und Genuss-OL machen standen auf dem Programm. Finnland präsentierte sich zum Abschluss dieser WM-Kampagne von seiner besten Seite!

An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen Personen bedanken, die mich auf dem Weg zu den WM-Medaillen 16 und 17 unterstützt haben!
Nun habe ich meine OL-Schuhe wieder auf die Seite gestellt und widme mich meinem ganz grossen Ziel in diesem Herbst: dem New York Marathon am 2. November.

Bilder: K. Lindgren, K. Hirvonen, J. Solonen, C. Aebersold

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